Die Zahl der Unsichtbaren steigt

Artikel vom 2015-12-09

 

Rund etwa 2000 Menschen auf den Kanarischen Inseln leben auf der Straße. Damit sind sie Ausdruck eines mehr als traurigen Trends: In Europa lebt jeder sechste Mensch in Armut. Aus einer Statistik der FEANTSA (Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri), der einzigen Dachorganisation, die ein europäisches Netzwerk von Non-Profit-Organisationen für Obdachlosenhilfe betreibt, geht hervor, dass etwa 400.000 Menschen in Europa auf der Straße leben.

 

Die Zahlen steigen stetig an. Allein in Spanien gibt es fast 40.000 Obdachlose. Nach Angaben der Caritas-Diözese auf den Kanaren sind es somit 15 Prozent mehr, als noch im letzten Jahr. Seit fünf Jahren engagiert sich der Europäische Verband der nationalen Vereinigungen in europaweiten Kampagnen für die Beendigung der Obdachlosigkeit in Europa. Dabei hat sie sich folgende Ziele gestellt: Niemand soll auf der Straße schlafen, keiner soll länger als notwendig in Notunterkünften übernachten und niemand soll ein Obdachlosenheim verlassen müssen, bevor er nicht eine Wohnung hat. Dies sei eine machbare Realität, so die FEANTSA, die nur durch gemeinsame Kompromisse geschaffen werden kann. Am diesjährigen Tag der Obdachlosen, dem 26. November, sind in mehr als 50 Städten Spaniens Tausende Leute ohne Wohnsitz auf die Straße gegangen, um auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Es sind eigentlich die gleichen Rechte, die jeder einzelne Bürger eines Staates hat. In Las Palmas versammelten sich mehr als 100 Menschen am Parque San Telmo, um der Bevölkerung die Scheuklappen abzunehmen. Auf Initiative der Caritas beteiligten sich bei der Kampagne Schülergruppen, die spielerisch unbeantwortete Fragen aufwerfen, in Gesprächsrunden Distanz überwinden und aufklären sollen, erläutert Mariza Legón, Sozialarbeiterin der Caritas Las Palmas. Mit weißen Masken, die auf die Identitätslosigkeit der Wohnungslosen hindeutet, liefen die Schüler gemeinsam mit den Betroffenen schweigend durch die Vegueta, die Altstadt von Las Palmas. Und tatsächlich: Die Menschen fragten, was dies bedeute.

Jeder kennt die Bilder der Menschen, die sich nachts aus Schutz vor Übergriffen und in der Hoffnung auf Almosen, lieber in der Nähe von öffentlichen Plätzen auf Kartons hinlegen. Doch keiner würdigt sie eines Blickes. Die Kampagne veranlasste die Menschen, hin- und nicht wegzusehen. Auf den Plakaten und Aufstellern am Parque San Telmo wurden Informationen bereitgestellt. Vielen Passanten scheint klar zu werden, was für ein Glück sie haben, dass es sie nicht betrifft. Sie beschäftigen sich gezwungenermaßen damit, was es bedeutet, obdachlos zu sein: Obdachlos zu sein, bedeutet unsichtbar zu werden. Menschen, die auf der Straße leben, haben keine Rückzugsmöglichkeit und fühlen sich ausgeliefert. Sie können nirgendwo hin. Ihr Hab und Gut ist beschränkt. Unsicherheit und Angst bestimmen ihren Alltag. Abgesehen davon, sich nicht waschen, etwas kochen oder sich in ein Bett legen zu können und richtig auszuruhen. Dass sie von der Gesellschaft als dreckig, alkohol- oder drogenabhängig oder minderwertig stigmatisiert werden, macht ihre Situation noch schlimmer. Sie werden in den allermeisten Fällen vom einfachen Gebrauch ihrer Grundrechte ausgeschlossen und verlieren so nicht nur die Chance auf eine Reintegration, sondern vor allem ihre Würde. Die meisten Passanten interessieren sich nicht für die Hintergründe, die in die Wohnungslosigkeit führten. Laut einer Studie der Caritas Granada sind circa 39 Prozent der Wohnungslosen vor einem Elternhaus geflohen, in dem Alkohol und Drogen konsumiert wurden, wovon die Hälfte der Jugendlichen dadurch in die Situation der Obdachlosigkeit geriet. Etwa 31 Prozent geben an, misshandelt worden zu sein und 16 Prozent wurden vor dem 18. Lebensjahr aus dem Elternhaus buchstäblich rausgeschmissen. Rund 45 Prozent haben selbst exzessiv Drogen genommen. Ungefähr 47 Prozent der Wohnungslosen haben durch einen schweren Unfall oder eine chronische Krankheit ihre Arbeit und anschließend ihre Wohnung verloren. Etwa 65 Prozent fühlten sich deshalb von Familien, Freunden und Kollegen im Stich gelassen und sind so in eine schwere Depression geraten, die nicht selten den Konsum von Alkohol und Drogen, bis hin zur Begehung von Straftaten, um diese zu beschaffen, nach sich zogen. Weitere Faktoren sind der Verlust der Eltern, Scheidung oder Trennung vom Lebenspartner, die Aufgabe der Wohnung oder die Folgen der Migration aus einem Flüchtlingsland. Ausgeschlossen von der Gesellschaft werden sie jedoch außerdem von den Institutionen. Ein Obdachloser beschreibt in einem Vers, welcher am Parque San Telmo publiziert wurde, seine Version des Identitätsverlustes: „Und deshalb: DU machst mich unsichtbar. Ich kann mich nicht weiterbilden, ständig und überall werde ich nach Dokumenten und Papieren gefragt. Ich kann mich nicht anmelden, da ich keine Wohnadresse besitze. Ich komme aus dem Gefängnis und somit vom Regen in die Traufe. Ich sehe nie meinen Anwalt und kann die Unterlagen nicht verstehen, die ich bekomme.“ Tatsächlich wird Wohnungslosen oft Hilfe verweigert, sei es in den Meldebehörden, in den Gesundheitsämtern, Bibliotheken, öffentlichen Verkehrsmitteln, Parkanlagen, Supermärkten und Geschäften. Die Art und Weise, wie sie häufig abgewiesen werden, nimmt ihnen ihre Würde. Und dafür ist jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft verantwortlich. Menschen, die auf der Straße leben, besitzen die gleichen Rechte, wie jeder andere auch und haben genauso eine Vergangenheit sowie eine Zukunft. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt, ignoriert zu werden, auf der Straße zu schlafen und beginnen mit sich selbst zu sprechen, gleiten ab in die Identitätslosigkeit und in einen Teufelskreis aus Hoffnungslosigkeit, Krankheit oder Abhängigkeit. Die Kampagne in diesem Jahr steht im Zeichen der Hoffnung unter dem Motto "Porque es posible. Nadie sin hogar", was sich in etwa übersetzen lässt als: Und wie es möglich ist. Keiner ohne Obdach. Der Appell gilt jedem einzelnen Bürger, nicht nur Medien, Kirchen, Wohltätigkeitsorganisationen oder Institutionen. Was Sie als Mitbürger der Gesellschaft tun können? Ganz einfach: Schauen sie den Menschen in die Augen und identifizieren Sie sie als Teil der Gesellschaft. Beurteilen oder verurteilen Sie nicht, sondern nehmen Sie diese einfach wahr. Sprechen Sie ihnen dieselben Rechte zu, die alle haben. Menschenrechte. Würde. Respekt. Beteiligen Sie sich an Initiativen und sorgen Sie mit ihrem eigenen Verhalten dafür, dass die Absichtserklärungen der Regierungen auch entwickelt und umgesetzt werden.

Foto | eldiario | Campaña de Cáritas 'Porque es posible. Nadie sin hogar'
Foto | Caritas Las Palmas | Die weiße Maske als Zeichen der Unsichtbaren